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Wie Greenwich zur Null kam

2 April 2006 Keine Kommentare

von Barbara Deubelbeiss

Vor zweihundert Jahren lebte praktisch jede Ortschaft in ihrer eigenen Zeit. Die natürliche Ortszeit ist einfach zu ermitteln: Wenn die Sonne den höchsten Punkt am Himmel erreicht, markiert sie den örtlichen Mittag. Die so ermittelte natürliche Ortszeit ist also direkt abhängig von der Erddrehung, und sie hat einen gewichtigen Nachteil: Sie gilt nur in einem sehr beschränkten Gebiet. Etwa alle 18 km in Ost-West Richtung erwächst eine Differenz von einer Minute.

In einer wenig mobilen Gesellschaft, die sich zu Fuss oder per Segelschiff fortbewegt, hat diese Zeitdifferenz keine Auswirkungen. Aber das 19. Jahrhundert sah die Entwicklung immer schnellerer Mittel für den Transport von Personen und Nachrichten. Namentlich mit der wachsenden Popularität von Eisenbahn und Telegraf genügte die Sonnenzeit schnell einmal den Ansprüchen der Mobilität nicht mehr. Die massive Erhöhung der Reisegeschwindigkeiten löste die Suche nach einem praktikablen, standardisierten und nicht zuletzt allgemein akzeptierten Zeitsystem aus.

Wie soll zum Beispiel ein verlässlicher Fahrplan erstellt werden, wenn Ausgangs- und Endpunkt, ja, jeder Bahnhof einer Linie unterschiedliche Uhrzeiten anzeigen? Die Eisenbahngesellschaften lösten das Problem, indem sie für ihre Strecken eine «bahneigene» Standardzeit definierten, meist die Ortszeit des Hauptsitzes. Damit reichten sie das Problem aber nur an ihre Passagiere weiter. Diese wechselten beim Umsteigen in Knotenpunkten nicht nur die Eisenbahngesellschaft, sondern traten auch in ein anderes Zeitsystem ein. Die Unterschiede konnten gerade bei den US-Amerikanischen Gesellschaften gross werden. Die New York Central Railroad Time differierte um 35 Minuten von der «Standardzeit» der Lake Shore and Michigan Southern Line, die der Ortszeit von Columbus entsprach. Gleichzeitig herrschte eine abweichende Ortszeit des Umsteigebahnhofes, während die Taschenuhr des Reisenden vermutlich noch immer die Zeit seines Zusteigeortes anzeigte.

In Frankreich wechselte man bereits mit dem Betreten des Bahnhofes die geltende Zeit: Im Stationsgebäude galt «l’heure de la gare», welche sich auf die Pariser Zeit bezog. Die Uhr an der Fassade des Bahnhofes hingegen zeigte «l’heure de la ville», also die tatsächliche Ortszeit an. In Deutschland arbeiteten die Eisenbahnen nach Berliner, Stuttgarter, Münchner, Karlsruher oder Ludwigshafener Zeit. Die Passagiere hingegen scheinen es vorgezogen zu haben, ihre Uhren ständig nachzustellen, um mit der realen Ortszeit konform zu bleiben. Zu diesem Zweck signalisierten Pfosten entlang der Strecke jede Minute Zeitdifferenz.

Bemühungen zur Standardisierung der Zeit auf nationaler Ebene gingen verständlicherweise von den Eisenbahngesellschaften aus. In England erfolgte die Einführung der Ortszeit der Sternwarte von Greenwich als nationaler Standard bereits 1852. Andere Länder folgten dem Beispiel und bezogen ihre Standardzeit auf ihre jeweiligen Sternwarten in Paris, Rom, Stockholm oder Bern.

Die amerikanischen Eisenbahnen hatten mit ungleich grösseren Schwierigkeiten zu kämpfen. Seit 1869 gab es eine Bahnverbindung von Küste zu Küste, was einen Unterschied in der Ortszeit von über fünf Stunden bedeutete, oder anders ausgedrückt, es galten fast 80 verschiedene Zeitstandards auf diesem Netz. 1870 veröffentlichte Professor Charles F. Dowd seinen Vorschlag «A System of National Time for Railroads», in dem er als Erster für die Einführung von Zeitzonen plädierte. Diese sollten sich über jeweils 15 Längengrade erstrecken (entspricht einer Stunde Zeitunterschied) und in dieser Zone eine Einheitszeit definieren, so dass sich beim Wechsel der Zone nur die Stunde, nicht aber die Minuten änderten. Dies ist im Wesentlichen das heute gültige System, nur ging Dowd vom Nullmeridian Washington aus, und sein System war als rein nationale Lösung gedacht.

Für die Idee einer standardisierten Weltzeit zeichnet ein anderer Mann verantwortlich: Sandford Fleming, Chefingenieur der Kanadischen Eisenbahnen. 1876 legte er einen radikalen Entwurf für eine vom Ort absolut unabhängige Zeit vor. Die Stunden sollten mit Buchstaben, die Minuten mit Ziffern angegeben werden. D Uhr 20 wäre demnach je nach geographischer Länge des Ortes ein Zeitpunkt am Nachmittag oder mitten in der Nacht, aber an jedem Ort der Erde wäre gleichzeitig D Uhr 20. Auch Fleming zielte also mit seinen Vorschlägen auf eine vereinfachte Fahrplanschreibung ab. Doch so radikale Vorschläge wurden ungnädig aufgenommen, und Fleming sah sich gezwungen, sein System zu modifizieren.

In einer zweiten Version von 1878 propagierte er die Einführung einer Welt-Standardzeit, ausgehend von dem Modell Dowds, jedoch mit dem Nullmeridian in Greenwich. Die Wahl fiel auf Greenwich, da damals schon der überwiegende Teil der Seekarten mit dieser Null-Linie arbeiteten. Selbstverständlich aber setzten französische Karten auf den Nullmeridian in Paris, portugiesische auf Lissabon, etc.

Auf Betreiben Flemings und namhafter Astronomen der ganzen Welt wurde im Jahr 1884 die International Meridian Conference einberufen, an der 25 Staaten vertreten waren, unter anderem auch die Schweiz. Die Delegierten dieser Konferenz legten in hitzigen Diskussionen die Standards fest, welche dem heutigen Welt-Zeitsystem zugrunde liegen: Ein einziger Nullmeridian, der Universal-Tag, die Festlegung der Datumsgrenze und die Einteilung in 24 Zeitzonen.

Dabei darf man nicht übersehen, dass die grundsätzliche Erfordernis solcher Standards bereits ein Jahr zuvor festgestellt worden war, nämlich an der Siebten Internationalen Geografenkonferenz in Rom. Die dort anwesenden Fachleute unterstrichen in ihren Resolutionen die Bedeutung eines standardisierten Zeitsystems und lieferten gleich auch wissenschaftlich fundierte Lösungsvorschläge. Die Konferenz von Rom bestimmte im Grunde die Agenda der International Meridian Conference von 1884.

Diese hingegen war keine Fachtagung von Geografen und Astronomen, sondern eine Versammlung von Diplomaten aus 25 Ländern, welche die vorgeschlagenen Grundsätze der Zeitmessung festschreiben sollte. Entsprechend kompliziert gestalteten sich denn auch die Verhandlungen. Gerade der Verlauf des Nullmeridians bot viel Anlass zur Diskussion. Greenwich bot sich zwar aus praktischen Gründen geradezu an, doch hatte insbesondere Frankreich starke Bedenken gegen eine «englische Null». Statt dessen plädierte man für einen «neutralen» Nullmeridian durch den Pazifik, den heutigen 180. Längengrad. Dies war allerdings kaum praktikabel, benötigte man doch für die exakte Bestimmung des Längengrades ein Observatorium, so dass ein pazifischer Nullmeridian nur mit grossem Aufwand und der Erstellung einer telegrafischen Verbindung zum Festland möglich gewesen wäre. Ausserdem, und dieses Detail hätte man beinahe übersehen, würde ein pazifischer Nullmeridian bedeuten, dass die Datumsgrenze direkt durch London verläuft. Die Vorstellung eines zwischen heute und morgen zweigeteilten Europa schreckte doch zu sehr.

Schliesslich siegte die Pragmatik: Auf dem Gelände des Observatoriums von Greenwich kann der Nullmeridian besichtigt werden, und die Datumsgrenze liegt am anderen Ende der Welt. Die Washingtoner Konferenz legte 1884 die noch heute gebräuchliche «Greenwich mean time» GMT fest. Bis diese Vorgaben jedoch weltweit anerkannt waren, dauerte es erstaunlich lange. In der Schweiz wurde die Zonenzeit (GMT +1) bereits 1894 eingeführt, in Frankreich 1911, in den Niederlanden 1940 und in Liberia erst 1972. Durch die wachsende Präzision der Zeitmessung wurden seither neue, noch exaktere Zeitstandards definiert. Keine dieser neuen Zeiten hat jedoch so weitreichende Auswirkungen gezeigt wie die Einführung der Greenwich mean time.

Quelle: http://pages.unibas.ch/deja-vu/archiv/die_uhr/greenwich.html